Die
Zeit verging, es verstrichen wieder Tage und Wochen. Nichts änderte
sich. Ich fühlte mich haltlos und verloren. Ich wollte so lange
schon abnehmen und nun habe ich verstanden, dass es überhaupt nicht
mein Ziel war. Wenn ich 150 kg wiegen würde und nach zehn Stufen
hoch außer Puste wäre, ja dann hätte ich wahrscheinlich wirklich
eine Motivation zum Abnehmen. Und so? Ich hatte fest gestellt, dass
ich mehr Gründe zum NICHT-Abnehmen hatte, als zum Abnehmen. Und auch
diese Liste habe ich nur bis zur Hälfte geknackt. Je mehr ich mir
das überlegte, desto weniger verstand ich, warum mich dieses Thema
beschäftigte.
Ich
sehnte mich nach meiner weisen Katze. Ich ging extra auf den Balkon
mit einer Tasse Tee, las am Fenster in der Hoffnung, dass sie
auftaucht. Sogar durch den Park bin ich öfter durch, um zu gucken,
ob sie da ist. Nein, sie blieb aus. Ich sehnte mich nach Antworten,
nach Klarheit, war verwirrt und hatte das Gefühl irgendwie neben mir
zu stehen. Ich war da, aber meine Gedanken kreisten um dasselbe
Thema.
So ging
es mir auch heute. Ich muss raus, dachte ich mir und ging in den
Park. Ja, mit einem Schimmer Hoffnung, ich gebe es zu.
Aber auf der
Bank saßen zwei alte Damen und erzählten sich die neuesten
Neuigkeiten von ihren Enkelkindern. Ich streifte weiter. Warm war es
heute und ich brauchte eine Pause. Einer alte Eiche versprach
Abkühlung, ich schmiss ein paar alte Eicheln zu Seite und setzte
mich auf den Boden. Mein Rücken lehnte sich an die raue Rinde des
alten Baumes und ich entspannte ein wenig.
Wie
wäre es mit eine Bilanz? Bisher habe ich:
- eine
Katze kennen gelernt, die mit mir spricht und weise Ratschläge gibt
- eine
Liste gemacht, warum ich nicht abnehmen will und sie teilweise sogar
verarbeitet
- eine
Liste geschrieben, warum ich abnehmen will und fest gestellt, dass
ich eigentlich nicht abnehmen will.
Ich
könnte an der ersten Liste weiterarbeiten, versuchen zu verstehen,
warum und weshalb, aber es klappte irgendwie nicht, mir fehlte der
Gegenpart, jemand, der das Ganze von der Seite betrachtet.
- Du
unterschätzt dich, du schenkst dem, was du bisher erreicht hast
keine Wertschätzung.
War es
mein Gedanke oder hörte ich da etwa wirklich meinen tierischen
Psychologen? Ich riss die Augen auf, sah mich um, keiner da. Hm, das
stimmt aber sehr. Ich muss mir doch eingestehen, dass ich einen
Schritt weiter bin. Ich habe mich immerhin von der Illusion befreit,
dass ich abnehmen will. Nein, die Gesellschaft will das, ich eher
weniger. Mir geht es ganz gut mit meinem Gewicht. So kann ich stark
sein, kriege meine Portion Leid ab, kann mich gut verstecken und noch
so viel mehr.
- Ja,
du bist wirklich weiter gekommen.
Diese
Stimme! Es ist nicht mein Gedanke. Es kommt von außen. Du meine
Güte, ich sollte das bloß keinem erzählen, die sperren mich doch
ein. Ich sah Hilfe suchend nach oben. Und wen sehe ich da oben in den
Zweigen? Tatsächlich! Sitzt die Katze da und grinst mich an.
-
Hallo. Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Wo warst du die ganze
Zeit? Ich habe dich so gebraucht. Und was meinst du mit „weiter
gekommen“?
- Auch
Hallo. Du bist aber stürmisch heute. Ich kann nicht immer bei dir
sein, du musst manchmal auch selbst klar kommen. Was du übrigens
auch gemacht hast.
- Ich
habe nicht das Gefühl, dass es stimmt. Ich komme mir vor wie in
einer Sackgasse. So viele Jahre habe ich versucht mein Gewicht zu
reduzieren. Und nun stelle ich fest, dass ich das eigentlich gar
nicht will.
- Und
das ist ein großer Fortschritt.
Na
toll, jetzt ist sie da, aber ich stehe immer noch auf dem Schlauch.
Was soll das heißen?
- Du
hast so lange nach fremden Vorgaben gelebt und suchst nun deinen
eigenen Weg. Das ist einfach wunderbar. Manchmal bringen dich viele
kleine Schritte viel weiter als ein riesiger Sprung.
- Aber
ich sehe, dass ich keine Motivation mehr zum Abnehmen habe.
- Und
was ist daran so schlecht?
-
Mensch, dann werde ich immer so bleiben wie ich bin!
- Na
und? Du bist wundervoll, egal wie viel du wiegst, verstehst du das
nicht?
Nein,
das verstand ich nicht. Ich war gewohnt mich nur dann anzunehmen,
wenn ich was erreicht habe. Dann war ich liebenswert.
- Du,
lass mal gut sein, - sagte ich schließlich zur Katze. - Könntest du
mir mit den anderen Punkten meiner Liste helfen?
-
Gerne. Wo sind wir stehen geblieben?
- Bei
der Stärke und Kraft. Ich wollte nicht abnehmen, weil ich stark
aussehen wollte.
-
Wollte?
- Hm,
ja, du hast recht. Ich wollte. Es lässt langsam nach. Ich habe kein
übermäßiges Bedürfnis mehr stark zu sein. Ich lasse mehr Nähe
zu, erlaube den anderen mich zu berühren. Ich meine meine Seele zu
berühren. Ich lasse Wut und Trauer zu, ich lasse Mitgefühl zu. Ich
bin offener geworden.
-
So-so, - sagte die Katze nur leise. - Und du stehst aber trotzdem in
einer Sackgasse, was? Dabei hast du dich schon längst umgedreht,
bist ein Stück zurück gegangen und läufst bereits einen anderen
Weg. Ich weiß, dein Ego will das nicht annehmen. Lass ihm seinen
Spaß. Beobachte es einfach mal eine Zeit lang, guck dir die Gründe
immer wieder an und frage dich, ob es noch stimmt. Wie geht es also
auf der Liste weiter?
- Bei
Punkt 5 heißt es: Ich kann mein Leben aufschieben, solange ich
übergewichtig bleibe.
-
Erstens: Du bist nicht übergewichtig. Dieser Begriff ist total
dämlich. Wenn dein Körper etwas ansammelt, dann will er dir nur was
zeigen. Eure Gesellschaft versucht immer nur die Symptome zu
behandeln, nicht die Ursache. Und zweitens: warum willst du es denn
aufschieben? Hast du Angst vor dem was kommt? Du könntest ja
tatsächlich glücklich werden? Fühlst du dich wertvoll genug, dass
du happy sein darfst?
Oje-mine,
so viele Fragen auf einmal. Da dreht sich mir der Kopf.
- Ich
will es nicht aufschieben. Nein, ich will leben. Aber ein Teil von
mir will es. Angst? Ja, wird wohl ein Teil dabei sein. Was mache ich
bloß, wenn ich glücklich bin? Kann ich denn auch zufrieden sein,
wenn ich mich nicht anstrengen muss? Wertgefühl? Ja, auch. Die
anderen, die dürfen, ich nicht. Keine Ahnung warum.
- Weil
dein Ego so über dich die Macht behalten kannst.
- Du
und dein Ego. Das nervt so langsam. Hast du keine anderen Antworten?
Die
Katze schmunzelte und sprang endlich vom Baum runter. So ist es
besser, ständig in den Himmel zu starren war nicht gerade bequem.
-
Bisher hatte ich nur da Antworten gefunden. Vielleicht wird es auch
noch was anderes sein. Aber die meisten Probleme der Menschen
entstehen, wenn ihr euch dem Ego hingebt. Bist du mit dem Punkt
fertig?
- Ich
glaube schon. Du meinst also, ich brauche mein Glück nicht
aufzuschieben? Ich soll jetzt schon glücklich sein?
- Wieso
nicht? Wir sind nicht hier um zu leiden. Wir sind hier um sich zu
freuen.
- Das
ist für mich noch ein wenig fremd. Du hörst dich wie ein Ketzer für
mich an.
Ich
streichelte gedankenverloren die Katze und sie genoss es sichtlich.
- Somit
wären wir bei Punkt 6: Ich bin in meinem Innersten ein absoluter
Masochist. Ich leide so gerne, du glaubst es gar nicht.
-
Beurteile dich nicht. Es ist okay. Du sehnst dich nach tief
greifenden Gefühlen und hast aber bisher die allumfassende
Glückselligkeit noch nicht kennen gelernt. Da ist es in Ordnung,
wenn man am Anfang nur die untere Ebene erforscht.
- Hör
mal, mir wird gerade was klar. Hängt das wieder mit meinem
Selbstwertgefühl zusammen?
- Ja.
Sehr gut erkannt. Wenn du das Gefühl hast, dass du ein Nichts bist,
dass du nicht wertvoll bist, dann glaubst du, dass du nichts anderes
als Leid verdienst. Nur ist das absoluter Humbug. Du bist ein sehr
wertvolles Wesen, wie jedes Wesen hier auf der Erde. Aber wenn du das
begriffen hast, dann bricht für das Ego wieder ein Teil der Welt
zusammen. „Wie, du bist jetzt wertvoll und brauchst kein Leid mehr?
Das gibt es doch nicht!“
Ich
schwieg und horchte in mich hinein.
-
Selbstmitleid. Das fühlt sich gut an, - brachte ich endlich hervor.
- Du
willst dich also selbst bemitleiden. Du hast wohl als Kind nicht viel
Mitgefühl erhalten, was? Lass es zu. Lass es kommen und gehen. Du
darfst dir selbst alles geben, was du von den anderen nicht bekommen
hast. Aber frage dich dabei: Fühle ich mich danach besser? Und wenn
nicht, dann lenke dich ab. Du bist die Herrscherin deiner Gedanken.
Du kannst bestimmen, was du denken und fühlen willst.
- Das
klingt bei dir so einfach, - sagte ich nachdenklich.
- Ist
es auch, wenn du nicht mehr vom Ego besessen bist.
-
Glücklich sein fühlt sich aber noch besser an. Besser als Mitleid.
- Hör
auf zu werten. Es gibt kein gut und schlecht, es ist einfach da.
Ich sah
den Wolken am Himmel zu, wie sie dahin zogen und mein Geist wurde
ruhig und klar. Ich wusste, dass das was sie da sagte die Wahrheit
war. Ich spürte es.
- Punkt
7? - fragte die Katze.
- Punkt
7. Was war das nochmal? Ach ja, Unzufriedenheit. Wenn ich nicht
abnehme, dann kann ich ständig unzufrieden mit mir sein. Ich habe
Übergewicht und muss abnehmen. Solange ich so bin, bin ich nicht
perfekt. Ich habe ein Traumgewicht als Ziel vor den Augen, strebe
dahin, erreiche es aber nie.
Die
Katze sah mich an und mir wurde klar, dass sie mich nicht versteht.
Kein Wunder, ich verstand mich ja selbst nicht mehr.
-
Sprich weiter, - forderte sie mich auf.
- Nun
ja, ich bin perfektionistisch, weißt du. Für mich gibt es entweder
gewinnen oder verlieren, was anderes akzeptiere ich. Bin aber nicht
so ausdauernd, dass es wirklich perfekt wäre.
- Wann
wärst du denn perfekt? Ganz ehrlich, egal wie viel du wiegen
würdest, du wärst trotzdem unzufrieden mit dir, stimmt es?
Sie
hatte mal wieder Recht, diese weise Katze. Ich hatte vor gar nicht
all zu langer Zeit mein „Idealgewicht“ erreicht und als ich mir
ein Bikini-Foto angeschaut habe, fuhr ich mit dem Finger die Konturen
meiner Hüften nach und wünschte sie mir noch dünner und straffer.
Und da kam eine Eingebung.
- Sag
mal, ist es wieder mein Ego, dass mich an der Nase herum führt?
- Kann
sein, kann sein, - schmunzelte sie in ihre Barthaare. - Aber frage
dich doch mal folgendes: Warum bist du so fordernd zu dir? Warum muss
es perfekt sein? Darf es nicht auch mal einfach gut sein? Oder
einfach nur sein?
Woher
kriegt sie nur diese Fragen? Diese verdammt gute Fragen. Warum? Ich
weiß auch nicht. Ich habe als Kind nicht besonders viel
Aufmerksamkeit bekommen und da hab ich mir wohl eingebildet, dass
wenn ich dieses und jenes perfekt mache, dann werde ich mehr geliebt.
Und in der Pubertät war es wahrscheinlich mein Ausgleich. Ich war
eine Außenseiterin, hab mit den Klassenkameraden mich nicht
besonders gut verstanden, hab mich meistens ausgegrenzt, wollte für
mich alleine sein. Und da hab ich mir gedacht, wenn ich nur schlank
wäre, dann würden die mich mögen.
Nein,
wie dumm ist das denn? Wenn jemand mich mag, dann ist es ihm mein
Gewicht (und mein Aussehen im Ganzen) so ziemlich egal. Will ich denn
wirklich, dass mich jemand mag, nur weil ich ein hübsches Gesicht
habe? Nein, ich wünsche mir, dass mich die anderen mögen, weil ich
ein liebenswerter Mensch bin.
Bei der
Partnersuche ging es mir nicht anders. Ich wollte schlank sein,
fühlte mich minderwertig, weil es nicht war und suchte und suchte
nach der Liebe im Außen. Wenn ich nochmal so jung und naiv wäre,
dann würde ich zuerst anfangen mich zu suchen. Ich würde versuchen
mich zu lieben, die Liebe für mich selbst zu entdecken. Und dann
würde sich auch der passende Partner von alleine finden.
- Für
dich gibt es nur schwarz oder weiß. Alles oder nichts, - entriss
mich die Katze meinen Gedanken. - Das kann doch nur schief gehen.
Alles wirst du nie erreichen und das macht dich fertig. Es wird nie
gut genug sein. Genauso mies wird es dir gehen, wenn du nichts
erreichst oder von vorne anfängst. Versuche es doch mal anders...
-
Anders? Wie meinst du das?
-
Schraube deine Anforderungen runter. Erlaube dir Fehltritte und
Ausrutscher. Sag nicht in der Früh: Heute werde ich nur Gesundes
essen. Nein, heute esse ich gesund, darf aber auch ein wenig naschen.
Verstehst du?
- Hm, -
ich runzelte die Stirn.
- Sage
dir nicht: Ich werde jeden Tag ins Fitness-Studio gehen. Sag lieber:
Wenn ich Lust habe, gehe ich dreimal die Woche hin. Und noch was:
Vermeide in deiner Ausdrucksweise die Wörter „nie“ oder „immer“.
Meistens übertreibst du sowieso.
Ja,
wenn ich sage, ich habe es nie richtig gemacht, dann stimmt es nicht.
Manchmal war es richtig, manchmal nicht. Oder: Immer bin ich so
ungeduldig. Ab und zu schon, kann aber sehr wohl wie eine Katze vor
dem Mauseloch ausharren. Apropos Katze, wo ist sie nur hin? Ich sah
auf die Uhr und dachte mir, dass es eh Zeit ist, nach Hause zu gehen.
Drei Punkte sind noch übrig, aber ich hatte auf einmal eine innere
Ruhe gefunden. Ich hatte noch mein ganzes Leben vor mir um dieses
Problem zu lösen. Ungeduld wird hier nicht weiterhelfen. Es ist ein
langer Weg, aber dieser Gedanke störte mich nicht.
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