Montag, 13. April 2015

Kapitel 6: Viele kleine Schritte nach vorne



Die Zeit verging, es verstrichen wieder Tage und Wochen. Nichts änderte sich. Ich fühlte mich haltlos und verloren. Ich wollte so lange schon abnehmen und nun habe ich verstanden, dass es überhaupt nicht mein Ziel war. Wenn ich 150 kg wiegen würde und nach zehn Stufen hoch außer Puste wäre, ja dann hätte ich wahrscheinlich wirklich eine Motivation zum Abnehmen. Und so? Ich hatte fest gestellt, dass ich mehr Gründe zum NICHT-Abnehmen hatte, als zum Abnehmen. Und auch diese Liste habe ich nur bis zur Hälfte geknackt. Je mehr ich mir das überlegte, desto weniger verstand ich, warum mich dieses Thema beschäftigte.
Ich sehnte mich nach meiner weisen Katze. Ich ging extra auf den Balkon mit einer Tasse Tee, las am Fenster in der Hoffnung, dass sie auftaucht. Sogar durch den Park bin ich öfter durch, um zu gucken, ob sie da ist. Nein, sie blieb aus. Ich sehnte mich nach Antworten, nach Klarheit, war verwirrt und hatte das Gefühl irgendwie neben mir zu stehen. Ich war da, aber meine Gedanken kreisten um dasselbe Thema.
So ging es mir auch heute. Ich muss raus, dachte ich mir und ging in den Park. Ja, mit einem Schimmer Hoffnung, ich gebe es zu.
Aber auf der Bank saßen zwei alte Damen und erzählten sich die neuesten Neuigkeiten von ihren Enkelkindern. Ich streifte weiter. Warm war es heute und ich brauchte eine Pause. Einer alte Eiche versprach Abkühlung, ich schmiss ein paar alte Eicheln zu Seite und setzte mich auf den Boden. Mein Rücken lehnte sich an die raue Rinde des alten Baumes und ich entspannte ein wenig.
Wie wäre es mit eine Bilanz? Bisher habe ich:
- eine Katze kennen gelernt, die mit mir spricht und weise Ratschläge gibt
- eine Liste gemacht, warum ich nicht abnehmen will und sie teilweise sogar verarbeitet
- eine Liste geschrieben, warum ich abnehmen will und fest gestellt, dass ich eigentlich nicht abnehmen will.
Ich könnte an der ersten Liste weiterarbeiten, versuchen zu verstehen, warum und weshalb, aber es klappte irgendwie nicht, mir fehlte der Gegenpart, jemand, der das Ganze von der Seite betrachtet.
- Du unterschätzt dich, du schenkst dem, was du bisher erreicht hast keine Wertschätzung.
War es mein Gedanke oder hörte ich da etwa wirklich meinen tierischen Psychologen? Ich riss die Augen auf, sah mich um, keiner da. Hm, das stimmt aber sehr. Ich muss mir doch eingestehen, dass ich einen Schritt weiter bin. Ich habe mich immerhin von der Illusion befreit, dass ich abnehmen will. Nein, die Gesellschaft will das, ich eher weniger. Mir geht es ganz gut mit meinem Gewicht. So kann ich stark sein, kriege meine Portion Leid ab, kann mich gut verstecken und noch so viel mehr.
- Ja, du bist wirklich weiter gekommen.
Diese Stimme! Es ist nicht mein Gedanke. Es kommt von außen. Du meine Güte, ich sollte das bloß keinem erzählen, die sperren mich doch ein. Ich sah Hilfe suchend nach oben. Und wen sehe ich da oben in den Zweigen? Tatsächlich! Sitzt die Katze da und grinst mich an.
- Hallo. Du hast mir einen Schrecken eingejagt. Wo warst du die ganze Zeit? Ich habe dich so gebraucht. Und was meinst du mit „weiter gekommen“?
- Auch Hallo. Du bist aber stürmisch heute. Ich kann nicht immer bei dir sein, du musst manchmal auch selbst klar kommen. Was du übrigens auch gemacht hast.
- Ich habe nicht das Gefühl, dass es stimmt. Ich komme mir vor wie in einer Sackgasse. So viele Jahre habe ich versucht mein Gewicht zu reduzieren. Und nun stelle ich fest, dass ich das eigentlich gar nicht will.
- Und das ist ein großer Fortschritt.
Na toll, jetzt ist sie da, aber ich stehe immer noch auf dem Schlauch. Was soll das heißen?
- Du hast so lange nach fremden Vorgaben gelebt und suchst nun deinen eigenen Weg. Das ist einfach wunderbar. Manchmal bringen dich viele kleine Schritte viel weiter als ein riesiger Sprung.
- Aber ich sehe, dass ich keine Motivation mehr zum Abnehmen habe.
- Und was ist daran so schlecht?
- Mensch, dann werde ich immer so bleiben wie ich bin!
- Na und? Du bist wundervoll, egal wie viel du wiegst, verstehst du das nicht?
Nein, das verstand ich nicht. Ich war gewohnt mich nur dann anzunehmen, wenn ich was erreicht habe. Dann war ich liebenswert.
- Du, lass mal gut sein, - sagte ich schließlich zur Katze. - Könntest du mir mit den anderen Punkten meiner Liste helfen?
- Gerne. Wo sind wir stehen geblieben?
- Bei der Stärke und Kraft. Ich wollte nicht abnehmen, weil ich stark aussehen wollte.
- Wollte?
- Hm, ja, du hast recht. Ich wollte. Es lässt langsam nach. Ich habe kein übermäßiges Bedürfnis mehr stark zu sein. Ich lasse mehr Nähe zu, erlaube den anderen mich zu berühren. Ich meine meine Seele zu berühren. Ich lasse Wut und Trauer zu, ich lasse Mitgefühl zu. Ich bin offener geworden.
- So-so, - sagte die Katze nur leise. - Und du stehst aber trotzdem in einer Sackgasse, was? Dabei hast du dich schon längst umgedreht, bist ein Stück zurück gegangen und läufst bereits einen anderen Weg. Ich weiß, dein Ego will das nicht annehmen. Lass ihm seinen Spaß. Beobachte es einfach mal eine Zeit lang, guck dir die Gründe immer wieder an und frage dich, ob es noch stimmt. Wie geht es also auf der Liste weiter?
- Bei Punkt 5 heißt es: Ich kann mein Leben aufschieben, solange ich übergewichtig bleibe.
- Erstens: Du bist nicht übergewichtig. Dieser Begriff ist total dämlich. Wenn dein Körper etwas ansammelt, dann will er dir nur was zeigen. Eure Gesellschaft versucht immer nur die Symptome zu behandeln, nicht die Ursache. Und zweitens: warum willst du es denn aufschieben? Hast du Angst vor dem was kommt? Du könntest ja tatsächlich glücklich werden? Fühlst du dich wertvoll genug, dass du happy sein darfst?
Oje-mine, so viele Fragen auf einmal. Da dreht sich mir der Kopf.
- Ich will es nicht aufschieben. Nein, ich will leben. Aber ein Teil von mir will es. Angst? Ja, wird wohl ein Teil dabei sein. Was mache ich bloß, wenn ich glücklich bin? Kann ich denn auch zufrieden sein, wenn ich mich nicht anstrengen muss? Wertgefühl? Ja, auch. Die anderen, die dürfen, ich nicht. Keine Ahnung warum.
- Weil dein Ego so über dich die Macht behalten kannst.
- Du und dein Ego. Das nervt so langsam. Hast du keine anderen Antworten?
Die Katze schmunzelte und sprang endlich vom Baum runter. So ist es besser, ständig in den Himmel zu starren war nicht gerade bequem.
- Bisher hatte ich nur da Antworten gefunden. Vielleicht wird es auch noch was anderes sein. Aber die meisten Probleme der Menschen entstehen, wenn ihr euch dem Ego hingebt. Bist du mit dem Punkt fertig?
- Ich glaube schon. Du meinst also, ich brauche mein Glück nicht aufzuschieben? Ich soll jetzt schon glücklich sein?
- Wieso nicht? Wir sind nicht hier um zu leiden. Wir sind hier um sich zu freuen.
- Das ist für mich noch ein wenig fremd. Du hörst dich wie ein Ketzer für mich an.
Ich streichelte gedankenverloren die Katze und sie genoss es sichtlich.
- Somit wären wir bei Punkt 6: Ich bin in meinem Innersten ein absoluter Masochist. Ich leide so gerne, du glaubst es gar nicht.
- Beurteile dich nicht. Es ist okay. Du sehnst dich nach tief greifenden Gefühlen und hast aber bisher die allumfassende Glückselligkeit noch nicht kennen gelernt. Da ist es in Ordnung, wenn man am Anfang nur die untere Ebene erforscht.
- Hör mal, mir wird gerade was klar. Hängt das wieder mit meinem Selbstwertgefühl zusammen?
- Ja. Sehr gut erkannt. Wenn du das Gefühl hast, dass du ein Nichts bist, dass du nicht wertvoll bist, dann glaubst du, dass du nichts anderes als Leid verdienst. Nur ist das absoluter Humbug. Du bist ein sehr wertvolles Wesen, wie jedes Wesen hier auf der Erde. Aber wenn du das begriffen hast, dann bricht für das Ego wieder ein Teil der Welt zusammen. „Wie, du bist jetzt wertvoll und brauchst kein Leid mehr? Das gibt es doch nicht!“
Ich schwieg und horchte in mich hinein.
- Selbstmitleid. Das fühlt sich gut an, - brachte ich endlich hervor.
- Du willst dich also selbst bemitleiden. Du hast wohl als Kind nicht viel Mitgefühl erhalten, was? Lass es zu. Lass es kommen und gehen. Du darfst dir selbst alles geben, was du von den anderen nicht bekommen hast. Aber frage dich dabei: Fühle ich mich danach besser? Und wenn nicht, dann lenke dich ab. Du bist die Herrscherin deiner Gedanken. Du kannst bestimmen, was du denken und fühlen willst.
- Das klingt bei dir so einfach, - sagte ich nachdenklich.
- Ist es auch, wenn du nicht mehr vom Ego besessen bist.
- Glücklich sein fühlt sich aber noch besser an. Besser als Mitleid.
- Hör auf zu werten. Es gibt kein gut und schlecht, es ist einfach da.
Ich sah den Wolken am Himmel zu, wie sie dahin zogen und mein Geist wurde ruhig und klar. Ich wusste, dass das was sie da sagte die Wahrheit war. Ich spürte es.
- Punkt 7? - fragte die Katze.
- Punkt 7. Was war das nochmal? Ach ja, Unzufriedenheit. Wenn ich nicht abnehme, dann kann ich ständig unzufrieden mit mir sein. Ich habe Übergewicht und muss abnehmen. Solange ich so bin, bin ich nicht perfekt. Ich habe ein Traumgewicht als Ziel vor den Augen, strebe dahin, erreiche es aber nie.
Die Katze sah mich an und mir wurde klar, dass sie mich nicht versteht. Kein Wunder, ich verstand mich ja selbst nicht mehr.
- Sprich weiter, - forderte sie mich auf.
- Nun ja, ich bin perfektionistisch, weißt du. Für mich gibt es entweder gewinnen oder verlieren, was anderes akzeptiere ich. Bin aber nicht so ausdauernd, dass es wirklich perfekt wäre.
- Wann wärst du denn perfekt? Ganz ehrlich, egal wie viel du wiegen würdest, du wärst trotzdem unzufrieden mit dir, stimmt es?
Sie hatte mal wieder Recht, diese weise Katze. Ich hatte vor gar nicht all zu langer Zeit mein „Idealgewicht“ erreicht und als ich mir ein Bikini-Foto angeschaut habe, fuhr ich mit dem Finger die Konturen meiner Hüften nach und wünschte sie mir noch dünner und straffer. Und da kam eine Eingebung.
- Sag mal, ist es wieder mein Ego, dass mich an der Nase herum führt?
- Kann sein, kann sein, - schmunzelte sie in ihre Barthaare. - Aber frage dich doch mal folgendes: Warum bist du so fordernd zu dir? Warum muss es perfekt sein? Darf es nicht auch mal einfach gut sein? Oder einfach nur sein?
Woher kriegt sie nur diese Fragen? Diese verdammt gute Fragen. Warum? Ich weiß auch nicht. Ich habe als Kind nicht besonders viel Aufmerksamkeit bekommen und da hab ich mir wohl eingebildet, dass wenn ich dieses und jenes perfekt mache, dann werde ich mehr geliebt. Und in der Pubertät war es wahrscheinlich mein Ausgleich. Ich war eine Außenseiterin, hab mit den Klassenkameraden mich nicht besonders gut verstanden, hab mich meistens ausgegrenzt, wollte für mich alleine sein. Und da hab ich mir gedacht, wenn ich nur schlank wäre, dann würden die mich mögen.
Nein, wie dumm ist das denn? Wenn jemand mich mag, dann ist es ihm mein Gewicht (und mein Aussehen im Ganzen) so ziemlich egal. Will ich denn wirklich, dass mich jemand mag, nur weil ich ein hübsches Gesicht habe? Nein, ich wünsche mir, dass mich die anderen mögen, weil ich ein liebenswerter Mensch bin.
Bei der Partnersuche ging es mir nicht anders. Ich wollte schlank sein, fühlte mich minderwertig, weil es nicht war und suchte und suchte nach der Liebe im Außen. Wenn ich nochmal so jung und naiv wäre, dann würde ich zuerst anfangen mich zu suchen. Ich würde versuchen mich zu lieben, die Liebe für mich selbst zu entdecken. Und dann würde sich auch der passende Partner von alleine finden.
- Für dich gibt es nur schwarz oder weiß. Alles oder nichts, - entriss mich die Katze meinen Gedanken. - Das kann doch nur schief gehen. Alles wirst du nie erreichen und das macht dich fertig. Es wird nie gut genug sein. Genauso mies wird es dir gehen, wenn du nichts erreichst oder von vorne anfängst. Versuche es doch mal anders...
- Anders? Wie meinst du das?
- Schraube deine Anforderungen runter. Erlaube dir Fehltritte und Ausrutscher. Sag nicht in der Früh: Heute werde ich nur Gesundes essen. Nein, heute esse ich gesund, darf aber auch ein wenig naschen. Verstehst du?
- Hm, - ich runzelte die Stirn.
- Sage dir nicht: Ich werde jeden Tag ins Fitness-Studio gehen. Sag lieber: Wenn ich Lust habe, gehe ich dreimal die Woche hin. Und noch was: Vermeide in deiner Ausdrucksweise die Wörter „nie“ oder „immer“. Meistens übertreibst du sowieso.
Ja, wenn ich sage, ich habe es nie richtig gemacht, dann stimmt es nicht. Manchmal war es richtig, manchmal nicht. Oder: Immer bin ich so ungeduldig. Ab und zu schon, kann aber sehr wohl wie eine Katze vor dem Mauseloch ausharren. Apropos Katze, wo ist sie nur hin? Ich sah auf die Uhr und dachte mir, dass es eh Zeit ist, nach Hause zu gehen. Drei Punkte sind noch übrig, aber ich hatte auf einmal eine innere Ruhe gefunden. Ich hatte noch mein ganzes Leben vor mir um dieses Problem zu lösen. Ungeduld wird hier nicht weiterhelfen. Es ist ein langer Weg, aber dieser Gedanke störte mich nicht.

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