Kapitel 1: Ich lerne jemanden neu kennen
Es war
ein Tag wie jeder andere, die Kinder in der Schule, ich habe den
Vormittag noch Einiges zu erledigen und mal wieder fand ich keine
Zeit mich hinzusetzen und einfach normal zu essen. Ich lief durch die
Wohnung, machte dies und das und so merkte ich nicht, dass ich
langsam hungrig werde. Die Alarmlampe leuchtete erst auf, als ich ein
unglaublichen Kohldampf hatte. Ja, einen Bärenhunger. Ich ging in
die Küche, aß davon ein Stückchen und hiervon einen Happen und
hatte am Ende doch ein Völlegefühl im Bauch.
Am
liebsten hätte ich mich hingelegt, aber mit vollem Magen? Nee, da
kommt ja das ganze Essen hoch. Und erbrechen sollte ich doch nicht.
Das ist nicht gesund und so. Ich machte mir einen Kamillentee, sah
auf die Uhr und wusste, dass ich noch eine gute halbe Stunde hab, bis
ich die Kinder abholen muss. Auf dem Balkon, auf meinen Sitzsack, da
ließ ich mich hin plumpsen. Ich sippte an dem Tee und das
Gedankenkarusell raste wieder vor mir. „Du hast wieder zu viel
gegessen. Du wirst immer übergewichtig bleiben. Du hast ja Null
Willenskraft...“ So und ähnlich drehte es sich in meinem Kopf.
Plötzlich
sprang eine graue Katze auf den Balkonsims und sah mich neugierig an.
Keine Scheu, keine Angst, völlig frei und authentisch kam sie näher
und schnurrte laut.
- Na,
mal wieder am Selbstzerfressen?
Was?
Was ist das denn? Habe ich das gerade wirklich gehört? Aber Katzen
können doch nicht reden!
- Und
ob wir das können. Nur hört man uns nicht immer zu, - hörte ich
wieder.
Die
Stimme kam nicht von der Katze, ihr Maul blieb verschlossen. Die
Sätze waren einfach gleich in meinem Kopf. Soweit bin ich also nun
gefallen? Ich höre, wie eine fremde Katze mit mir spricht.
- Bin
ja gar nicht fremd, ich lebe nebenan.
Kann
diese Katze etwa Gedankenlesen? Bin ich verrückt geworden? - fragte
ich erstaunt. Nein, ich fragte nicht laut. Was sollen die Nachbarn
bloß denken? Es war eine Frage, die ich gerne ausgesprochen hätte,
aber noch bevor ich meinen Mund öffnen konnte, kam die Katze näher
und fuhr mit ihrem Kopf unter meine Hand. Ich kraulte sie ein wenig,
streichelte über ihr weiches Fell.
- Na,
was ist los mit dir, - fragte die Katze und sah mir in die Augen.
- Hm,
ich weiß nicht so recht. Ich habe das Gefühl, ich habe zu viel
gegessen.
-
Schuldgefühle also. War es aber wirklich viel?
- Kann
sein. Wobei... Nein, lass mich einen kurzen Rückblick machen. Ein
kleines Stück Brot mit Butter, ein halber Apfel, ein halber
Teelöffel Honig, eine Handvoll Cornflakes, eine Karotte...
- Und
du füllst dich aber, als ob du ein ganzes Schwein alleine verspeist
hättest?
- Ja!
Woher weißt du das?
Die
Katze sagte nichts, sie sprang auf mein Schoß und genoss die
Streicheleinheiten, die ich ihr schenkte.
- Warum
also glaubst du, dass du zu viel gegessen hast? Warum wäre zu viel
essen schlecht? - fragte sie schließlich.
- Naja,
ich bin ja nicht zierlich, da darf man nicht so zulangen, sonst nehme
ich noch mehr zu.
- Und
du hättest gerne abgenommen, was?
Wer
hätte das nicht gerne? Wir leben in einer Gesellschaft, in der
Schlanksein mit Schönsein gleichgestellt ist. Wer Übergewicht hat,
gilt als undiszipliniert, als faul, der lässt sich so gehen,
furchtbar, schrecklich. Wie kann man nur? Und wehe, dir gelingt es
nicht, diesem Ideal näher zu kommen. Nein, ich meine nicht die
Menschen, die manchmal ein wenig zunehmen und dann wissen, oh, ich
habe hier und da, etwas zu viel gegessen. Dann streicht derjenige die
Snacks und macht wieder etwas Sport – et voila, das Gewicht ist
wieder gesunken.
Ich
gehöre zu den Menschen, die sich plagen, das Gewicht (und somit den
Körper) bekämpfen, immer wieder ein wenig (oder ein bisschen mehr)
abnehmen und dann wieder zunehmen. Zu den Menschen, die essen, wenn
sie traurig sind. Oder unglücklich oder wütend oder aus Langeweile.
Oder weil sie keine Lust haben etwas nur für sich zuzubereiten. Es
sind so viele Faktoren.
- Ich
sehe, du bist so weit, dass du dir helfen lassen würdest. Beantworte
einfach folgende Fragen, - sprach die Katze wieder. - Welche Rolle
spielt dein Übergewicht in deinem Leben? Wozu ist es gut? Wobei ist
es hilfreich? Warum solltest du NICHT abnehmen? Mich interessiert es
ziemlich wenig, weil ich die Antworten eh weiß. Aber du solltest dir
da wirklich Klarheit verschaffen.
Nun
gut, wenn ich mich schon mit einer Katze unterhalte, dann kann ich ja
auch ihren Ratschlägen folgen. So habe ich da Problem noch nie
betrachtet. Ich konzentrierte mich und schrieb alles nieder, was mir
in den Kopf kam. Hier ist also meine persönliche Liste.
Warum sollte ich NICHT abnehmen?
1.
Nicht abnehmen ist toll! Denn wenn du abnimmst (und um Gottes Willen
auch noch nicht wieder zunimmst), da wirst du das Problem ein für
alle Mal gelöst haben. Mensch, was mach ich ohne dieses Problem?
Spinnt ihr? Das ist mein Leben, die Gedanken daran, was ich essen
soll und wie und wo und warum – das ist ein großer Teil meines
Lebens. Nee, so etwas darf man nicht verlieren, da ist es schon echt
besser nicht abzunehmen.
2. Wenn
ich abnehme, dann werde ich attraktiv. Und das ist wei-wei-auwei und
ach-ach-ach wie Furcht erregend. Denn dann werden auch die Männer
auf mich aufmerksam und vor denen hab ich doch Angst. Eine große
Angst. Sie lügen doch alle nur und werden auf jeden Fall mich doch
alle hintergehen oder mir weh tun. Schon seit dem Kindergarten
fürchte ich mich vor Betatschen. Damals hat ein Junge mir eine auf
den Hintern geklatscht und meinte so ganz erwachsen: „Boah, was für
Schenkel!“. Also NICHT schlank zu sein ist sehr angenehm. Kein
kurzer Rock, kein Betatschen.
3. Vor
Kurzem habe ich bis zu meinem Idealgewicht abgenommen, ABER um das
Gewicht zu halten hätte ich auf Kohlenhydrate verzichten sollen. Auf
alle Kohlenhydrate. Nudeln und Brot, na gut, ich komme schon
irgendwie ohne klar. Bonbons und süßes Gebäck, na gut, kann man
auch mit Trockenobst oder Obst ersetzen. Und meinem geliebten
Buchweizen für immer entsagen? Nein! Also, nicht abzunehmen ist
toll, weil man weiterhin sein Lieblingsessen essen darf. Man muss
sich nicht begrenzen.
4. Wozu
ist das Übergewicht noch gut? Es sieht nach Stärke aus. Wie soll
ich das nur erklären... Wenn ich korpulent bin (nein, wirklich für
dick halte ich mich nicht), dann strahle ich aus, dass ich stark bin.
Habt Angst vor mir, ihr meine Feinde! Und die nicht Feinde natürlich
auch. Ich möchte so aussehen, dass keinem auch in den Sinn kommt,
dass man mich verletzen könnte. Das ist erstens. Und zweitens: es
tut so gut sich stark zu fühlen. Es tut so gut, wenn andere deine
Stärke bewundern. Ach, du kannst dies und das? Hmmm, wie Balsam auf
die Seele.
5.
Außerdem hilft Übergewicht das Leben auf später zu verlegen. Ja,
genau so! „Ich nehme ein paar Kilos ab und dann... „ Ja, ich
werde dann glücklich sein, nicht jetzt, irgendwann später. Vor den
Augen hab ich, wie ein Esel, immer diese Möhre am Stab hängen –
das Ziel, das man nie erreichen wird. Aber es gibt ein Ziel und da
muss man hin streben. Und das heißt, man braucht jetzt noch nicht
volle Pulle leben.
6. Und
noch ein sehr interessanter Punkt. Dank meines „überschüssigen“
Gewichts bekomme ich ständig eine Portion Leid. Wow, ist das nicht
unglaublich? Ich staune selbst über diese Entdeckung. Und dabei bin
ich so masochistisch! Nur dass ich das nicht durch Peitschenhiebe
ausdrücke. Und dem Mann werde ich das natürlich auch nicht
erlauben, das fehlte ja gerade noch. Nein, zuerst begrenze ich mich
beim Essen, quäle mich selbst, dies darfst du nicht essen und das
auch. Dann kommt ein Fressanfall, Gewissensbisse. Und dann siehst du,
dass sich das Gewicht auch nicht nach unten verändert hat, wie
ärgerlich, wie schade und wie quälend. Und wenn du begreifst, dass
du wieder von vorne anfangen musst – oh, hier hat man garantiert
eine Unmenge an quälenden Emotionen.
7.
Nicht abnehmen, heißt immer mit sich unzufrieden sein. Nicht nur,
dass ich ein Masochist bin, nein, ich bin auch noch
perfektionistisch. Alles muss auf eine glatte Eins gemacht werden!
Nur fehlt es mir da an Eifer und Sorgfalt, naja, Ausdauer hab ich
auch nicht wirklich. Daher bleiben nur die viel zu hohen
Anforderungen an sich selbst. Und davon kann man ja wieder genug Leid
bekommen. Und wenn ich abnehme, dann werde ich ja perfekt sein. Was
soll ich dann bloß machen?
8.
Warum sollte ich noch NICHT abnehmen wollen? Welche Nutzen habe ich
davon? Ich muss meine Garderobe nicht erneuern. Ich habe nicht viele
Kleidungsstücke, aber alle wurden bedacht ausgewählt. Wenn ich
abnehme, dann muss ich entweder die Sachen kleiner machen oder neue
kaufen. Und ich bin sehr geizig, geizig was mich selbst angeht
(furchtbar geizig), sich selbst was kaufen ist für mich sehr schwer,
furchtbar schwer fällt es mir, Geld für mich selbst auszugeben.
Nicht abnehmen ist also wiederum super. Trage Sachen aus deiner
Mini-Garderobe und freue dich des Lebens.
9. Die
Rolle von Übergewicht in meinem Leben? Antwort: RIESIG! Und allein
diese Erkenntnis ist es wert, dass ich es als einen einzelnen Punkt
erläutere. In meinem Leben gibt es meinen Mann, meine Kinder,
Familie, Haushalt, Arbeit, Hobbys und noch vieles mehr. Aber für all
das bleibt nur die Hälfte (wenn nicht noch weniger) der Zeit. Wie
viel Zeit ich schon auf das Begreifen einer neuen Diät verschwendet
habe, wie viele Bücher, Artikel und sonstigen Müll hab ich schon
über die „richtige“ Ernährung gelesen? Wie viel Kraft kostet es
ein neues Ernährungssystem aufzubauen? Und die ständigen Gedanken,
was ich gegessen habe und es hätte nicht tun sollen?! Und dann ist
man ja auch noch gezwungen sich im Gefängnis der neuen Diät
aufzuhalten. Und im Falle eines Misserfolges die Scherben aufsammeln
und sich wieder zusammen kleben...
10. Und
wozu ist das Übergewicht schließlich und endlich noch behilflich?
Es wird wunderbar das Gefühl instand gehalten, dass ich eine
Versagerin bin, nichts in meinem Leben erreicht habe und alle meine
Anstrengungen nichtig sind. Nichts bin ich wert und werde es auch nie
sein. Niedriges Selbstwertgefühl? Ja, ist nicht ohne.
Du
meine Güte, wäre ich da nur nicht so gnadenlos ehrlich zu mir
selbst! Was da alles hoch gekommen ist! Ich habe Angst vor Männern?
Habe ich wirklich? Ja, eine allumfassende! Ich fühle mich als
Versagerin? Yeap. Ich bin masochistisch? Und wie! Geizig und
perfektionistisch? Na, klar! Oh je, da steht mir aber viel Arbeit
bevor... Die Katze war aber inzwischen verschwunden und ich raffte
mich auf, die Kinder abzuholen.
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