Ich hatte einen wundervollen Sonntag. In der Früh die Wohnung sauber gemacht, danach mit dem Mann gekuschelt, die Kinder waren draußen, Mittagessen gekocht, gegessen, kurz ausgeruht und zum Geo-Caching los gedüst. War schön in der Natur zu sein. Essen? Hm, geht so. Drei Kekse nach der Mittagspause, ein kleines Stück Käsekuchen nach dem Mittagessen - sonst brav. Und war es auch intuitiv? Leider nicht so. Ich habe einfach das gegessen, was da war. Ich habe mich zwar gefragt, was ich gerne hätte, aber ich hatte keine Antwort gefunden. Naja, morgen ist auch noch ein Tag.
Kapitel
16: Symptome und Ursachen
Welche
Vorteile bringt mir diese Krankheit? Genau diese Frage habe ich mir
neulich gestellt. Zuerst müsste ich aber definieren, was meine
Krankheit so ausmacht.
a)
Ich esse teilweise mehr, als ich brauche, kann also nicht aufhören
zu essen, obwohl ich satt bin.
b)
Ich esse um mich meine Emotionen zu unterdrücken.
c)
Ich esse um mich vor einer Aufgabe zu drücken, es hinaus zu zögern.
d)
Ich esse manchmal nicht das, was ich wirklich brauchen würde. Bin
immer noch im Diäten-Wahn oder im Zwang „Es muss vegan sein“.
Wenn ich also am Abend Lust auf Fisch habe, dann neige ich dazu
stattdessen einen Salat zu essen.
e)
Ich habe sehr strenge Vorstellungen davon was gesund und was ungesund
ist. Mich stört es also, wenn meine Kinder Pizza essen. Nur Pizza
meine ich. Wenn Sie davor Gemüse gegessen haben, dann ist es in
Ordnung.
f)
Manchmal erbreche ich auch, wenn ich zu viel gegessen habe. Ich esse
solange, bis mir schlecht wird. Bis ich so voll bin, dass ich
Magenschmerzen habe. Dann erbreche ich meistens. Ich suche den
Zustand des Heiligen Nichts. Das kann man wunderbar mit Essen
erreichen. Ein sogenanntes Freßkomma. Ich denke nichts, ich fühle
nichts, ich esse, ich kaue kaum, ich schlucke nur. Ich bin wie im
Komma.
g)
Manchmal erbreche ich, wenn ich zuviel gegessen habe oder meiner
Ansicht nach das Falsche gegessen habe.
h)
Fast hätte ich es vergessen: Ich esse, wenn ich müde bin. Am Abend.
Wenn der Tag stressig war und ich völlig fertig bin, mir aber noch
unbedingt vornehme dieses und jenes zu erledigen.
Und
hier könnte ich nun all die Sachen aus dem vorherigen Kapitel
aufführen. Negative Überzeugungen über sich und seinen Körper
(niedriges Selbstwertgefühl also), Perfektionismus, Neigung zur
Hektik, Missachtung der eigenen Bedürfnisse, Unfähigkeit fest zu
stellen, was ich denn nun gerade fühle.
Gut.
Das sind die Symptome. Was sind die Ursachen? Wollen wir mal sehen.
a)
Womöglich esse ich mehr als ich brauche, weil mein Unterbewusstsein
immer noch in Panik schwebt, dass der Hungertod droht. Vielleicht
erledigt sich das von alleine, wenn ich im Unterbewussten keine Panik
mehr habe.
b)
Emotional bedingtes Essen ist ein Versuch die Gefühle zu
verarbeiten. Ich esse, weil mir keine anderen Methoden bekannt sind.
Habe es nicht anders gelernt. Was nicht ist, kann aber werden.
c)
Um etwas hinaus zu zögern. Ich will es nicht tun. Das ist der
Hintergrund. Warum fühle ich mich dazu genötigt, es doch zu tun?
Wenn ich nicht will, dann kann ich ja warten, bis ich es will. Und
selbst wenn das nicht kommt, dann hat es auch seine Berechtigung da
zu sein. Dann ist es auch gut so, dass ich es nicht mache.
d)
Ein wenig zu Überzeugungsmanagement. Ich bin überzeugt, ich glaube,
dass wenn ich mich „gesund“ ernähre, dass ich dann die Garantie
bekomme, dass ich gesund bleibe. Und ich fühle mich besser als die
Anderen. Das auch. Ich bin Veganer, ihr nicht. Ich darf aber alles
essen. Ich darf. Ich gebe mir selbst die Erlaubnis. Wenn nicht ich,
wer sonst?
e)
Hier geht es um Dasselbe. Ich glaube, wenn ich Salat statt Fisch
esse, dann werde ich schlank sein. Und ich davon überzeugt, dass
meine Kinder gesund bleiben, wenn sie sich gesund ernähren. Ich habe
Angst um sie. Angst eine schlechte Mutter zu sein. Das habe ich heute
beim Zahnarzt wieder zu spüren bekommen. Wenn das Kind Karies hat,
dann hast du als Mutter versagt. Du hast dem Kind zu viel Süßes
erlaubt und hast nicht gut genug nach geputzt. Und das Kind schläft
mit offenem Mund, trockene Mundschleimhaut kann auch zu Karies
beitragen.
f)
Das Fresskomma suche ich weil ich manchmal so fertig bin, dass ich
nichts mehr fühlen möchte. Ich überschätze mich, meine Kräfte.
Lauge mich komplett aus. Oder ich bin gerade völlig überfordert mit
allem. Ich will mich nicht als Versager fühlen. Also lieber voll
stopfen.
g)
Ich erbreche bei übermäßigem oder „falschem“ Essen, weil ich
mir die Kontrolle wieder zurück holen will. Ja, so habe ich das
Gefühl, dass alles wieder unter Kontrolle ist. Ich habe keine
überflüssigen Kalorien in mir drin. Sehr naive Vorstellung, denn im
Prinzip ist es genau umgekehrt: Die Krankheit kontrolliert mich. Es
ist wie bei Magersüchtigen, die denken, sie hätten die Kontrolle,
wenn sie es schaffen, so wenig wie möglich zu essen. Dabei rutschen
sie immer tiefer in die Magersucht rein.
h)
Ich esse, wenn ich müde bin, weil ich an mich selbst zu hohe
Anforderungen stelle. Ich habe eine strenge Richtlinie mir selbst
gegenüber. Ich muss! Ich muss am Abend mit der Großen noch spielen.
Ich muss. Ich kann meine Grenzen da auch nicht abstechen, ich gebe
nach, wenn sie sagt: Ich will aber mit dir noch spielen.
Und
die restlichen Symptome, die habe ich schon immer wieder
angeknabbert.
Negative
Überzeugungen über mich und meinen Körper und niedriges
Selbstwertgefühl hängen womöglich mit meiner Erziehung zusammen.
Ich wurde selten gelobt. All zu einfach mache ich es mir aber nicht.
Ich bin nicht nur das, was meine Eltern mir anerzogen haben. Ich kann
es verändern. Jedes Mal, wenn mich jemand lobt, kann ich frei
entscheiden ob ich das Lob annehme oder nicht. Und ich kann eine
Liste mit all den Sachen machen, die ich gut kann. Da muss ich
schmunzeln, wieder eine Liste. Die geben mir Halt, diese Listen. Ich
kann mich selbst aufbauen, darum geht es.
Ob
ich den Perfektionismus auch aus der Kindheit mit gebracht habe?
Vermutlich nicht, denn als Kind haben meine Eltern mir gegenüber
keine Forderungen aufgestellt. Sie haben nicht verlangt, dass alles
perfekt sein muss. Meine Mutter hat schon sehr genaue Vorstellungen
von einer geplanten Feier zum Beispiel, aber das ist eher Kontrolle
und nicht perfekt sein wollen. Aber erlaubt sich meine Mutter Fehler
zu machen? Ich glaube nicht. Aber ich erlaube es mir. Ich will nicht
perfekt sein. Das ist nur eine dumme Angewohnheit (wie Rauchen) und
die will ich aufgeben.
Meine
Neigung zur Hektik habe ich aber zu 100% von meiner Mutter
übernommen. Ja, immer fleißig und beschäftigt, immer was zu tun,
ja nicht ruhen oder faul lenzen. Bevor ich aber hier so wie oben
vorgehe (einfach weg haben wollen), muss ich mir klar werden, ob ich
das nicht evtl. doch brauche. Auf eine sadistische Art. Ich quäle
mich selbst damit, mache mich damit zwar fertig, aber brauche es
doch, weil es mir das Gefühl gibt, ich bin besser. Einfach besser
und auch besser als die anderen.
Meine
eigenen Bedürfnisse missachte ich, weil ich ein niedriges
Selbstwertgefühl habe. Meine Bedürfnisse sind es nicht wert
geachtet zu werden. Erst die anderen, dann ich. Mir fehlt eine
gesunde Portion Egoismus.
Die
Unfähigkeit fest zu stellen, was ich gerade fühle, kommt ebenfalls
aus der Kindheit. Wenn mein Bruder mich geärgert hat, so war es die
beste Methode dem zu entkommen. „Du kannst sagen was du willst,
mich verletzt es eh nicht.“ Und natürlich kommt hinzu, dass ich
als Kind nie stören wollte. Mein Bruder war oft krank und ich wollte
meinen Eltern nicht noch mehr Umstände bereiten. So habe ich meine
Ängste zurück gehalten. Ich war mir sicher, ich muss es alleine
schaffen. Und wenn ich zu meiner Mutter kam und mich beschwert habe,
dass mich das eine oder andere Kind geärgert hat, so hieß es nur:
Petze nicht! Kläre das selbst. Da habe ich verstanden, dass es
nichts bringt, Hilfe zu suchen.
Einen
Moment mal, damals hat es nichts gebracht, heute ist es was anderes.
Heute bin ich ein anderer Mensch und mir kann sehr wohl jemand
helfen. Genauso ist es mit den anderen Überzeugungen. Ich
entscheide, was ich glauben will und was nicht. Und ich will nicht
glauben, dass ich allein mit meinen Problemen bin, dass ich ungeliebt
bin, dass mich keiner ernst nimmt und auch nicht, dass meine
Bedürfnisse an letzter Stelle stehen müssen und auch nicht dass ich
ständig was tun muss, damit es wert bin zu leben.
Ich
habe das Gefühl, das ist eine große Erkenntnis. Ich habe mir
Verhaltensmuster angeeignet, das damals hilfreich war. Nun habe ich
die Wahl, ob es noch weiterhin brauche. Viele kleine Schritte immer
wieder in die richtige Richtung werden mich schon weiter bringen.
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