Montag, 20. April 2015

Kapitel 11: Was unterscheidet einen Essgestörten von einem normalen Menschen?


Diesmal vergingen keine Tage bis zum nächsten Treffen. Die Katze saß in der Früh einfach am Tisch und guckte mich erwartungsvoll an. Ich goss ihr eine kleine Schüssel Milch ein, sie schleckte sie aus und sah mich zufrieden an
- Wie geht es dir? - fragte sie mich freundlich.
- Ich weiß nicht. Glaube, gut. Sicher bin ich mir nicht.
- Wieso?
- Ich habe zugenommen.
- Hast du dich etwa gewogen? - fragte sie streng.
- Nein, aber meine Hosen sitzen noch straffer und mein Bauch ist runder geworden.

- Na und? Du bist dabei ein großes Problem zu lösen. Seit so vielen Jahren hast du deinem Körper so viel verweigert. Er muss sich erst daran gewöhnen, dass er keine Hungersnot mehr von dir erwarten braucht.
- Na gut. Können wir das Thema wechseln. Ich will die Hintergründe meiner Krankheit verstehen.
- Oho, da hat ja jemand wieder einen großen Sprung nach vorne gemacht, - lobte die Katze.
- Was meinst du?
- Du sagst „meine Krankheit“. Du gestehst dir ein, dass du krank bist. Das ist ein riesiger Schritt nach vorne.
- Wie du meinst. Warum also bin ich krank geworden?
- Es ist ziemlich einfach. Erstens hast du nicht gelernt deine Emotionen zu verarbeiten, du hast nicht gelernt sie so anzunehmen, wie sie sind. Du glaubst, du bist traurig. Nein, du bist nicht das Gefühl, du hast nur ein Gefühl. Daraus folgt zweitens: Du kennst keine anderen Methoden der Beruhigung, als zu essen.
- Ja, das verstehe ich inzwischen sehr gut. Aber gibt es nicht irgendwie bestimmte Eigenschaften, die einen Menschen anfällig für eine Essstörung machen?
Die Katze hielt inne und es schien, als ob sie wieder einen stummen Dialog mit jemanden hält.
- Gut, ich fühle, du bist soweit. Wir machen weiter. Hör mir gut zu und vergleiche mal, was zu dir passt und was du gar nicht hast.
1. Pleasing. Im Englischen gibt es das Verb „to please“, was so viel heißt, wie: jemandem einen Freude machen. Jemand mit einer Essstörung ist es gewohnt seine eigenen Bedürfnisse zu missachten. Etwas zu tun, obwohl er es gar nicht möchte. Die Bedürfnisse der anderen höher als die eigenen zu stellen.
- Ja, das kenne ich. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass mein ganzes Leben von jemand anderem beherrscht wird. Ich esse, wenn die anderen essen. Ich gehe zum Spielplatz, weil die Kinder es wollen, obwohl ich sehr müde bin. Und noch viele solcher Fälle.
- Gut. Wie könntest du damit arbeiten?
- Ich könnte mehr darauf achten, was ich eigentlich will. Öfter mich das auch fragen. Ich könnte aufhören etwas für jemanden zu machen. Ich könnte aufhören mich aufzuopfern.
- Das klingt sehr viel versprechend. Wir machen weiter.
2. Dissotiation. Menschen mit Essstörung sind Meister darin nichts zu fühlen. Sie sind da, aber sie fühlen weder Schmerz noch Freude. Sie und ihr Körper sind zwei getrennte Einheiten. Sie nehmen ihre Gefühle oft sehr gedämpft wahr oder können gar nicht sagen, was sie gerade fühlen. Du kannst so viel schimpfen und schreien, das berührt sie nicht.
- Und wieder ein Volltreffer. Wenn mein Bruder mich geärgert hat, habe ich mich einfach zurück gezogen. Ich sitze zwar am Tisch, aber mich interessiert nicht was du da erzählst. Ich könnte noch bewusster werden. Mit mehr Bewusstheit durch den Tag laufen. Alle um mich herum wahrnehmen. Denn nicht alles tut weh. Wenn ich ich mich vor negativen Gefühlen aussperre, dann mache ich auch vor positiven dicht.
- Das klingt schon sehr gut. Aber mehr Achtung bitte. Du hast diese Verhaltensweisen entwickelt, weil sie dir geholfen haben. „Ich bin nicht da und so kann mir keiner weh tun“. Es hat dich geschützt. Du hast nur so überleben können.
Mir kamen wieder die Tränen und ich lächelte bitter.
- Du hast mal wieder Recht. Diese innere Abwesenheit die hat mir gut getan. Weißt du was? Ich kann keine Trauer empfinden. Ich habe mich mit einer Freundin über den Tod von nahen Menschen unterhalten und mir ist klar geworden, dass ich es einfach nicht kann. Eine Leere ist da. Kein Trauer, kein Schmerz, keine Ängste. Nichts.
- Du wirst lernen, diese Gefühle wahr zu nehmen. Sie zu fühlen. Sie zuzulassen. Ich glaube an dich. Du schaffst es, da bin ich mir sicher.
3. Perfektionismus. Sie wollen alles perfekt machen. Es muss alles auf eine glatte Eins erledigt werden. Weniger als 100 % Leistung wird nicht anerkannt.
- Naja, ich habe schon manchmal sehr genaue Vorstellungen davon, wie etwas laufen soll oder aussehen soll. Du weißt, das hatte ich ja auch in meiner Liste drin. Dabei ist meine Ausdauer aber nicht gerade die beste.
- Hör auf, dich runter zu machen, frage dich lieber wie du damit arbeiten willst.
- Eigentlich ist das die einfachste Sache, es sich zu überlegen. Es muss aber dann noch gemacht werden, dass ist der schwierigere Part. Ich könnte mir ein Recht auf Fehltritte eingestehen. Ich bin ja auch nur ein Mensch, wir alle sind nicht perfekt und das ist gut so. Jeder hat seine Macken.
- Wow, das klingt ja schon sehr weise.
Hat sie mich gerade gelobt? Egal, mir ist auf jeden Fall klar geworden, dass mir das nicht gut tut perfekt sein zu wollen. Es schadet mir sogar.
- Wie geht es mit den Eigenschaften weiter? - fragte ich.
- 4. Hektisch. Die Menschen mit einer Essstörung sind oft in überflüssiger Eile und Hektik. Sie wollen Tausend Sachen erledigen und am besten gleichzeitig und sofort. Sie planen viel. Meistens viel zu viel. Sie übernehmen etwas für die anderen, was die auch selbst schaffen würden.
- Und auch hier erkenne ich mich wieder. Ich könnte doch statt zehn Sachen nur fünf einplanen. Ich denke, ich hätte ein besseres Gefühl, wenn ich mir weniger vornehme und auch nur das Notwendigste erledige.
- Sehr schön. Somit sind wir bei Nummer 5: Negative Überzeugungen von sich selbst. Solche Menschen sehen die Realität irgendwie durch eine besondere Brille oder wie in einem schiefen Spiegel. Wenn sie sich übrigens im Spiegel betrachten, dann sind sie Meister darin, das zu sehen, was anderen nicht einmal auffällt. Sie können keine Komplimente annehmen, sei es für ihr Äußeres oder für ihre Fähigkeiten.
- Oh, ja! - fiel ich der Katze ins Wort. Ich kann da überhaupt nicht. Ich habe das Gefühl, dass derjenige das nur sagt, weil er muss oder weil er mir eine Freude machen möchte. Es kann auf gar keinen Fall also stimmen, dass ich hübsch bin oder gut nähen kann.
- Kein Wunder. Du liebst dich nicht. Du nimmst dich nicht an, so wie du bist. Das wäre vielleicht auch noch eine Hausaufgabe für dich. Sich so akzeptieren, wie du bist. Ohne wenn und aber.
Ja, das werde ich versuchen. Versprochen. Aber ohne Fanatismus, wenn es klappt – super, wenn nicht, dann eben noch nicht.

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