Diesmal
vergingen keine Tage bis zum nächsten Treffen. Die Katze saß in der
Früh einfach am Tisch und guckte mich erwartungsvoll an. Ich goss
ihr eine kleine Schüssel Milch ein, sie schleckte sie aus und sah
mich zufrieden an
-
Wie geht es dir? - fragte sie mich freundlich.
-
Ich weiß nicht. Glaube, gut. Sicher bin ich mir nicht.
-
Wieso?
-
Ich habe zugenommen.
-
Hast du dich etwa gewogen? - fragte sie streng.
-
Nein, aber meine Hosen sitzen noch straffer und mein Bauch ist runder
geworden.
-
Na und? Du bist dabei ein großes Problem zu lösen. Seit so vielen
Jahren hast du deinem Körper so viel verweigert. Er muss sich erst
daran gewöhnen, dass er keine Hungersnot mehr von dir erwarten
braucht.
-
Na gut. Können wir das Thema wechseln. Ich will die Hintergründe
meiner Krankheit verstehen.
-
Oho, da hat ja jemand wieder einen großen Sprung nach vorne gemacht,
- lobte die Katze.
-
Was meinst du?
-
Du sagst „meine Krankheit“. Du gestehst dir ein, dass du krank
bist. Das ist ein riesiger Schritt nach vorne.
-
Wie du meinst. Warum also bin ich krank geworden?
-
Es ist ziemlich einfach. Erstens hast du nicht gelernt deine
Emotionen zu verarbeiten, du hast nicht gelernt sie so anzunehmen,
wie sie sind. Du glaubst, du bist traurig. Nein, du bist nicht das
Gefühl, du hast nur ein Gefühl. Daraus folgt zweitens: Du kennst
keine anderen Methoden der Beruhigung, als zu essen.
-
Ja, das verstehe ich inzwischen sehr gut. Aber gibt es nicht
irgendwie bestimmte Eigenschaften, die einen Menschen anfällig für
eine Essstörung machen?
Die
Katze hielt inne und es schien, als ob sie wieder einen stummen
Dialog mit jemanden hält.
-
Gut, ich fühle, du bist soweit. Wir machen weiter. Hör mir gut zu
und vergleiche mal, was zu dir passt und was du gar nicht hast.
1.
Pleasing. Im Englischen gibt es das Verb „to please“, was so viel
heißt, wie: jemandem einen Freude machen. Jemand mit einer
Essstörung ist es gewohnt seine eigenen Bedürfnisse zu missachten.
Etwas zu tun, obwohl er es gar nicht möchte. Die Bedürfnisse der
anderen höher als die eigenen zu stellen.
-
Ja, das kenne ich. Manchmal habe ich sogar das Gefühl, dass mein
ganzes Leben von jemand anderem beherrscht wird. Ich esse, wenn die
anderen essen. Ich gehe zum Spielplatz, weil die Kinder es wollen,
obwohl ich sehr müde bin. Und noch viele solcher Fälle.
-
Gut. Wie könntest du damit arbeiten?
-
Ich könnte mehr darauf achten, was ich eigentlich will. Öfter mich
das auch fragen. Ich könnte aufhören etwas für jemanden zu machen.
Ich könnte aufhören mich aufzuopfern.
-
Das klingt sehr viel versprechend. Wir machen weiter.
2.
Dissotiation. Menschen mit Essstörung sind Meister darin nichts zu
fühlen. Sie sind da, aber sie fühlen weder Schmerz noch Freude. Sie
und ihr Körper sind zwei getrennte Einheiten. Sie nehmen ihre
Gefühle oft sehr gedämpft wahr oder können gar nicht sagen, was
sie gerade fühlen. Du kannst so viel schimpfen und schreien, das
berührt sie nicht.
-
Und wieder ein Volltreffer. Wenn mein Bruder mich geärgert hat, habe
ich mich einfach zurück gezogen. Ich sitze zwar am Tisch, aber mich
interessiert nicht was du da erzählst. Ich könnte noch bewusster
werden. Mit mehr Bewusstheit durch den Tag laufen. Alle um mich herum
wahrnehmen. Denn nicht alles tut weh. Wenn ich ich mich vor negativen
Gefühlen aussperre, dann mache ich auch vor positiven dicht.
-
Das klingt schon sehr gut. Aber mehr Achtung bitte. Du hast diese
Verhaltensweisen entwickelt, weil sie dir geholfen haben. „Ich bin
nicht da und so kann mir keiner weh tun“. Es hat dich geschützt.
Du hast nur so überleben können.
Mir
kamen wieder die Tränen und ich lächelte bitter.
-
Du hast mal wieder Recht. Diese innere Abwesenheit die hat mir gut
getan. Weißt du was? Ich kann keine Trauer empfinden. Ich habe mich
mit einer Freundin über den Tod von nahen Menschen unterhalten und
mir ist klar geworden, dass ich es einfach nicht kann. Eine Leere ist
da. Kein Trauer, kein Schmerz, keine Ängste. Nichts.
-
Du wirst lernen, diese Gefühle wahr zu nehmen. Sie zu fühlen. Sie
zuzulassen. Ich glaube an dich. Du schaffst es, da bin ich mir
sicher.
3.
Perfektionismus. Sie wollen alles perfekt machen. Es muss alles auf
eine glatte Eins erledigt werden. Weniger als 100 % Leistung wird
nicht anerkannt.
-
Naja, ich habe schon manchmal sehr genaue Vorstellungen davon, wie
etwas laufen soll oder aussehen soll. Du weißt, das hatte ich ja
auch in meiner Liste drin. Dabei ist meine Ausdauer aber nicht gerade
die beste.
-
Hör auf, dich runter zu machen, frage dich lieber wie du damit
arbeiten willst.
-
Eigentlich ist das die einfachste Sache, es sich zu überlegen. Es
muss aber dann noch gemacht werden, dass ist der schwierigere Part.
Ich könnte mir ein Recht auf Fehltritte eingestehen. Ich bin ja auch
nur ein Mensch, wir alle sind nicht perfekt und das ist gut so. Jeder
hat seine Macken.
-
Wow, das klingt ja schon sehr weise.
Hat
sie mich gerade gelobt? Egal, mir ist auf jeden Fall klar geworden,
dass mir das nicht gut tut perfekt sein zu wollen. Es schadet mir
sogar.
-
Wie geht es mit den Eigenschaften weiter? - fragte ich.
-
4. Hektisch. Die Menschen mit einer Essstörung sind oft in
überflüssiger Eile und Hektik. Sie wollen Tausend Sachen erledigen
und am besten gleichzeitig und sofort. Sie planen viel. Meistens viel
zu viel. Sie übernehmen etwas für die anderen, was die auch selbst
schaffen würden.
-
Und auch hier erkenne ich mich wieder. Ich könnte doch statt zehn
Sachen nur fünf einplanen. Ich denke, ich hätte ein besseres
Gefühl, wenn ich mir weniger vornehme und auch nur das Notwendigste
erledige.
-
Sehr schön. Somit sind wir bei Nummer 5: Negative Überzeugungen von
sich selbst. Solche Menschen sehen die Realität irgendwie durch eine
besondere Brille oder wie in einem schiefen Spiegel. Wenn sie sich
übrigens im Spiegel betrachten, dann sind sie Meister darin, das zu
sehen, was anderen nicht einmal auffällt. Sie können keine
Komplimente annehmen, sei es für ihr Äußeres oder für ihre
Fähigkeiten.
-
Oh, ja! - fiel ich der Katze ins Wort. Ich kann da überhaupt nicht.
Ich habe das Gefühl, dass derjenige das nur sagt, weil er muss oder
weil er mir eine Freude machen möchte. Es kann auf gar keinen Fall
also stimmen, dass ich hübsch bin oder gut nähen kann.
-
Kein Wunder. Du liebst dich nicht. Du nimmst dich nicht an, so wie du
bist. Das wäre vielleicht auch noch eine Hausaufgabe für dich. Sich
so akzeptieren, wie du bist. Ohne wenn und aber.
Ja,
das werde ich versuchen. Versprochen. Aber ohne Fanatismus, wenn es
klappt – super, wenn nicht, dann eben noch nicht.
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