Vorgestern hatte ich ein Erlebnis mit der Torte, hab ich schon geschrieben: lange gewünscht, gekauft und dann schmeckt es doch nicht. Gestern war es dann ein Schoko-Fudge-Eis. Mittags war es ziemlich warm und als ich die Kinder abgeholt habe, da haben die gesagt, die hätten gerne ein Eis. Wieso auch nicht? Schnell geholt und mit einer Decke im Park gemütlich gemacht. Und was passiert? Mein Eis schmeckt mir nicht. Könnt ihr euch so was vorstellen? Ein Eis schmeckt nicht. Hab ich noch nie erlebt. Es ist einfach zu süß und irgendwie zu cremig, nein, zu fettig. Als ob ich Sahne löffeln würde. So ein Löffelchen Sahne auf dem Kuchen ist schon lecker, aber pur und auch noch so süß und so viel? Hab es dann nach Hause gebracht und mir schöne Stunden mit den Damen in der Sonne gegönnt.
Kapitel 12: Ich packe es an
Kapitel 12: Ich packe es an
Nach
langem hin und her habe ich mich doch für ein Gespräch bei der
Beratungsstelle für Essstörungen entschlossen. Leicht war es nicht,
denn die Stelle heißt „Beratungsstelle für Suchterkrankungen“.
Nun ja, wenn ich aber ehrlich bin, so bin ich süchtig nach Essen.
Nur kann man hier nicht wie bei Drogen oder Alkohol einfach hergehen
und es absetzen. Ich muss den richtigen Umgang damit finden. Also
keine Kekse futtern, wenn ich aufgedreht bin. Stattdessen...
Ja,
was mache ich stattdessen? Was würde mir in diesem Moment gut tun?
Ich weiß es nicht. Ich fühle mich da so furchtbar, dass ich es nur
noch schnell los haben will. Und Essen beruhigt mich. Da ist nichts
schlechtes dran, es ist auch eine Methode, aber eine, die mir
schadet. Weil mein Körper es in dem Moment gar nicht braucht. Und
das dadurch entstehende Übergewicht ist nur eine Seite. Das
Schlimmere daran sind die Schuldgefühle. Ich esse um mich zu
beruhigen und wenn ich dann mich beruhigt habe, dann fühle ich mich
mies, weil ich mal wieder genascht habe.
Bis
zum Gespräch bei der Beratungsstelle muss ich aber irgendwie durch
halten, es sind ja noch ein paar Wochen bis dahin. Was also könnte
ich statt Essen zum Beruhigen verwenden. Nehmen wir eine konkrete
Situation. Es ist Abend, die Kleine schläft oder wird vom Mann ins
Bett gebracht, ich bin schon ziemlich müde vom Tag und die Große
will aber noch ihre Aufmerksamkeit.
Gestern
da war es so, dass der Mann nicht da war und ich mich den Damen
widmen wollte. Nein, ich wollte nicht wirklich, ich hatte das Gefühl,
ich muss. Ich habe den ganzen Tag über den beiden nicht so viel
Aufmerksamkeit geschenkt. Wollte aufholen. Hatte das Gefühl eine
schlechte Mutter zu sein. Aha, da sind wir wieder bei den
Schuldgefühlen, wie lustig. Ich fühle mich schuldig, weil ich den
ganzen Tag keine Lust auf Kinderbelustigung hatte. Eine gute Mutter
muss doch …
Nein,
Schluss damit! Ich will keine gute Mutter mehr sein! Mir reicht es!
Jedes Mal, wenn ich mich frage, wer ich bin, dann denke ich mir: ich
bin eine gute Mutter, eine fürsorgliche Tochter, eine brave Haus-
und Ehefrau. Wird das denn nie ein Ende haben? Muss ich unbedingt vor
meine Rollen ein Adjektiv stellen? Muss ich gut, brav, nett oder
sonstwas sein? Ich kann doch einfach sagen: ich bin eine Mutter, eine
Haus- und Ehefrau, eine Tochter. Das fühlt sich viel besser an.
Keine
Bedingungen mehr. Keine Anforderungen an sich selbst. Nur noch sein.
Einfach sein. Oh, das fühlt sich schon richtig himmlisch an. Ich
bin. Das ist es! Einfach: Ich bin. Ohne irgendwelche Zusätze. Und
ich bin es gerne. Ich bin ich und ich bin es gerne. Das muss ich erst
mal auf der Zunge rollen. Hm, das ist lecker. Ich bin ich. All diese
Vielfalt, die ich in mir trage, all diese Gedanken und Gefühle, all
das, was mich ausmacht. Was mich so besonders macht, von den anderen
unterscheidet. Ich bin nicht wie die anderen und das ist gut so. Ich
bin anders und zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich eine
Zufriedenheit, wenn ich das spüre. Ich bin individuell, ein
Individuum, ein Unikat.
Aber
zurück zur abendlichen Situation. Was kann ich da tun? Womöglich
würde es helfen, wenn ich erst gar nicht so müde und ausgelaugt
bin. Wenn ich mir vorher schon eine Ruhepause gönne. Wenn ich mich
nicht auspowere, bis ich völlig leer bin. Genauer! Was heißt es?
Wie mache ich das? Und vor allem wann? Wie wäre es mit der Zeit,
wenn der Mann nach Hause kommt? Wenn er Frühschicht hat, dann ist es
kurz vor drei. Das ist eine gute Zeit. So bis vier Uhr Nachmittag,
wäre es wirklich gut.
Mir
ist schon aufgefallen, dass wenn ich nach dem Mittagessen ein
Nickerchen mache, der Tag dann gar nicht so lang wirkt. Es fühlt
sich anders an. Ich bin meistens um sechs in der Früh wach. Mache
und schaffe und leiste bis zum Mittag, d. h. ungefähr sechs bis
sieben Stunden. Vom Mittag bis zum Abend, bis ich also wirklich im
Bett sind es aber noch mal gute acht Stunden. Und wenn man bedenkt,
dass nachmittags mein Energielevel meistens sinkt, dann muss ich mir
da erst recht eine Pause gönnen.
Das
hätten wir. Unbedingt eine Pause einlegen. Und wenn der Mann
Spätschicht hat, dann meditiere ich eben in dieser Zeit. Ich könnte
aber auch Nähen oder mich irgendwie anders beschäftigen. Einfach
mal chillen. Gute Musik hören, ein bisschen Tanzen oder Schwimmen.
Gut, dann formuliere ich das anders: Nachmittags sich Zeit für SICH
selbst nehmen. Weil ich es mir wert bin.
Gut,
wenn ich aber mittendrin bin, was mache ich dann? Wenn ich mich müde
fühle und die Kinderlein auch ihre Bedürfnisse haben. Die Antwort
liegt auf der Oberfläche: Meine Bedürfnisse nach oben stellen.
Nicht erst an die anderen denken. Ohne Schuldgefühle sich zurück
ziehen und sagen: Nö, ich bin jetzt müde. Wir können einfach
kuscheln, dafür brauche ich keine Kraft, das kann man sogar im
Liegen machen.
Dafür
muss mir aber bewusst sein, dass ich ich müde bin. Also mehr
Achtsamkeit, bewusster sein, in sich hinein hören. Ich kenne ja auch
genug Techniken um schnell wieder Kraft zu tanken. Sei es eine
Atemübung oder auch nur die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken.
Es
bleibt noch das „Danach“. Wenn ich es also nicht geschafft habe
und doch zum alten Muster gegriffen habe. Keine Schuldgefühle. Ich
habe es getan, weil es nicht anders ging. Noch nicht. Ich bin dabei
dieses Problem zu lösen. Und ich habe mich ja immerhin beruhigt. Ich
habe meine Geschmacksknospen verwöhnt. Ich habe mir was Gutes getan,
was Leckeres gegessen. Ja, es gibt noch genug andere Sachen, mit
denen man sich Gutes tun könnte. Aber noch, bin ich nicht in der
Lage, sie anzuwenden. Ich habe aber mein ganzes Leben noch vor mir.
Moment
mal, was ist denn das? Ich habe ja neben den Schuldgefühlen auch
noch das Gefühl versagt zu haben. Wieder habe ich es nicht
geschafft. Was geschafft? Mich zu kontrollieren. Aber vielleicht ist
es auch gut so? Vielleicht sollte ich langsam lernen diese Kontrolle
los zu lassen? Einfach ich sein. Es mir erlauben. Leben und nicht
ständig eingrenzen. Oh, das ist ja ein schönes Gefühl. Leben. Frei
und unbeschwert.
Nur,
wer hat sich diese Zäune denn gebaut? Ich selbst. Ich selbst habe
mich ins Gefängnis meines Diätdenkens begeben. Ich darf dieses
nicht und jenes auch nicht. Hier eine Sperre und da ein Gitter. Ja,
nicht frei sein. Aber bin ich denn soweit, dass ich aus der Haft
entlassen werden kann? Wie so viele Häftlinge, die eine lange
Sitzdauer hinter sich haben, so habe ich auch eine gewisse Angst vor
der Freiheit.
Hier
in der Diät, da ist alles bekannt, da weiß ich, was ich darf und
was nicht. Das ist eine gewohnte Situation. Da draußen in der freien
Wildbahn, da muss ich mich umstellen. Da ist alles anders. Und neu.
Ja, ich habe tatsächlich ein wenig Angst dieses Neuland zu betreten.
Ich
kämpfte so mit der Angst dahin, als eine neue Email in mein Postfach
flatterte. Ach, nur ein Newsletter, winkte ich schon fast ab. Da las
ich die Überschrift und mir stockte der Atem „Neuland betreten“.
Nein, gibt es denn so was? Ich öffnete und war völlig aus den
Socken. Ein Gedicht von Andrea Abele.
Neuland
betreten heißt,
ausgetretene
Pfade verlassen,
Liebgewordenes
loslassen,
Grenzen
überschreiten,
Sicherheiten
aufgeben,
Hoffnung
auf etwas setzen,
was
noch nicht sichtbar ist.
Neuland
betreten heißt,
unbekannte
Wege entdecken,
Neues
lieb gewinnen,
Horizonte
weit abstecken,
Selbstvertrauen
stärken,
erleben
wie Reide und
Wachstum
geschieht.
Mich
berührte es sehr und ich fühlte noch mehr Entschlossenheit die
Krankheit zu besiegen. Jedoch sah ich in der Essstörung kein Problem
in dem Sinne mehr. Nein, es ist eine Ressource. Wenn ich diese
Krankheit nicht hätte, dann würde ich diese Seiten an mir nicht
bearbeiten. Ich würde weiterhin die Bedürfnisse der anderen vor
meine eigenen stellen.
Ich
würde nicht auf die Idee kommen, mir mehr Ausgleich zu verschaffen.
Ich wäre weiterhin sehr streng zu mir und würde meine irrationalen
Vorstellungen von mir selbst behalten. Ich würde es nicht so schlimm
finden, dass ich nicht weiß, was ich fühle; dass ich mich von
meinen Gefühlen fern halte; dass da eine Barriere zwischen mir und
meinem Körper ist. Und hektisch zu sein, wäre für mich auch nicht
so furchtbar. Wie eine emsige Biene, immer fleißig, immer tut sie
was.
Nein,
nun fühlte ich die Kraft und den Mut es zu verändern. Es hatte
alles einen Sinn bekommen. Ich werde diese Eigenschaften in mir so
umwandeln, dass sie mir gut tun. Das ist notwendig, damit ich die
Störung beheben kann.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen