Mittwoch, 22. April 2015

Kapitel 12: Ich packe es an

Vorgestern hatte ich ein Erlebnis mit der Torte, hab ich schon geschrieben: lange gewünscht, gekauft und dann schmeckt es doch nicht. Gestern war es dann ein Schoko-Fudge-Eis. Mittags war es ziemlich warm und als ich die Kinder abgeholt habe, da haben die gesagt, die hätten gerne ein Eis. Wieso auch nicht? Schnell geholt und mit einer Decke im Park gemütlich gemacht. Und was passiert? Mein Eis schmeckt mir nicht. Könnt ihr euch so was vorstellen? Ein Eis schmeckt nicht. Hab ich noch nie erlebt. Es ist einfach zu süß und irgendwie zu cremig, nein, zu fettig. Als ob ich Sahne löffeln würde. So ein Löffelchen Sahne auf dem Kuchen ist schon lecker, aber pur und auch noch so süß und so viel? Hab es dann nach Hause gebracht und mir schöne Stunden mit den Damen in der Sonne gegönnt. 

Kapitel 12: Ich packe es an

Nach langem hin und her habe ich mich doch für ein Gespräch bei der Beratungsstelle für Essstörungen entschlossen. Leicht war es nicht, denn die Stelle heißt „Beratungsstelle für Suchterkrankungen“. Nun ja, wenn ich aber ehrlich bin, so bin ich süchtig nach Essen. Nur kann man hier nicht wie bei Drogen oder Alkohol einfach hergehen und es absetzen. Ich muss den richtigen Umgang damit finden. Also keine Kekse futtern, wenn ich aufgedreht bin. Stattdessen...

Ja, was mache ich stattdessen? Was würde mir in diesem Moment gut tun? Ich weiß es nicht. Ich fühle mich da so furchtbar, dass ich es nur noch schnell los haben will. Und Essen beruhigt mich. Da ist nichts schlechtes dran, es ist auch eine Methode, aber eine, die mir schadet. Weil mein Körper es in dem Moment gar nicht braucht. Und das dadurch entstehende Übergewicht ist nur eine Seite. Das Schlimmere daran sind die Schuldgefühle. Ich esse um mich zu beruhigen und wenn ich dann mich beruhigt habe, dann fühle ich mich mies, weil ich mal wieder genascht habe.
Bis zum Gespräch bei der Beratungsstelle muss ich aber irgendwie durch halten, es sind ja noch ein paar Wochen bis dahin. Was also könnte ich statt Essen zum Beruhigen verwenden. Nehmen wir eine konkrete Situation. Es ist Abend, die Kleine schläft oder wird vom Mann ins Bett gebracht, ich bin schon ziemlich müde vom Tag und die Große will aber noch ihre Aufmerksamkeit.
Gestern da war es so, dass der Mann nicht da war und ich mich den Damen widmen wollte. Nein, ich wollte nicht wirklich, ich hatte das Gefühl, ich muss. Ich habe den ganzen Tag über den beiden nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Wollte aufholen. Hatte das Gefühl eine schlechte Mutter zu sein. Aha, da sind wir wieder bei den Schuldgefühlen, wie lustig. Ich fühle mich schuldig, weil ich den ganzen Tag keine Lust auf Kinderbelustigung hatte. Eine gute Mutter muss doch …
Nein, Schluss damit! Ich will keine gute Mutter mehr sein! Mir reicht es! Jedes Mal, wenn ich mich frage, wer ich bin, dann denke ich mir: ich bin eine gute Mutter, eine fürsorgliche Tochter, eine brave Haus- und Ehefrau. Wird das denn nie ein Ende haben? Muss ich unbedingt vor meine Rollen ein Adjektiv stellen? Muss ich gut, brav, nett oder sonstwas sein? Ich kann doch einfach sagen: ich bin eine Mutter, eine Haus- und Ehefrau, eine Tochter. Das fühlt sich viel besser an.
Keine Bedingungen mehr. Keine Anforderungen an sich selbst. Nur noch sein. Einfach sein. Oh, das fühlt sich schon richtig himmlisch an. Ich bin. Das ist es! Einfach: Ich bin. Ohne irgendwelche Zusätze. Und ich bin es gerne. Ich bin ich und ich bin es gerne. Das muss ich erst mal auf der Zunge rollen. Hm, das ist lecker. Ich bin ich. All diese Vielfalt, die ich in mir trage, all diese Gedanken und Gefühle, all das, was mich ausmacht. Was mich so besonders macht, von den anderen unterscheidet. Ich bin nicht wie die anderen und das ist gut so. Ich bin anders und zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich eine Zufriedenheit, wenn ich das spüre. Ich bin individuell, ein Individuum, ein Unikat.
Aber zurück zur abendlichen Situation. Was kann ich da tun? Womöglich würde es helfen, wenn ich erst gar nicht so müde und ausgelaugt bin. Wenn ich mir vorher schon eine Ruhepause gönne. Wenn ich mich nicht auspowere, bis ich völlig leer bin. Genauer! Was heißt es? Wie mache ich das? Und vor allem wann? Wie wäre es mit der Zeit, wenn der Mann nach Hause kommt? Wenn er Frühschicht hat, dann ist es kurz vor drei. Das ist eine gute Zeit. So bis vier Uhr Nachmittag, wäre es wirklich gut.
Mir ist schon aufgefallen, dass wenn ich nach dem Mittagessen ein Nickerchen mache, der Tag dann gar nicht so lang wirkt. Es fühlt sich anders an. Ich bin meistens um sechs in der Früh wach. Mache und schaffe und leiste bis zum Mittag, d. h. ungefähr sechs bis sieben Stunden. Vom Mittag bis zum Abend, bis ich also wirklich im Bett sind es aber noch mal gute acht Stunden. Und wenn man bedenkt, dass nachmittags mein Energielevel meistens sinkt, dann muss ich mir da erst recht eine Pause gönnen.
Das hätten wir. Unbedingt eine Pause einlegen. Und wenn der Mann Spätschicht hat, dann meditiere ich eben in dieser Zeit. Ich könnte aber auch Nähen oder mich irgendwie anders beschäftigen. Einfach mal chillen. Gute Musik hören, ein bisschen Tanzen oder Schwimmen. Gut, dann formuliere ich das anders: Nachmittags sich Zeit für SICH selbst nehmen. Weil ich es mir wert bin.
Gut, wenn ich aber mittendrin bin, was mache ich dann? Wenn ich mich müde fühle und die Kinderlein auch ihre Bedürfnisse haben. Die Antwort liegt auf der Oberfläche: Meine Bedürfnisse nach oben stellen. Nicht erst an die anderen denken. Ohne Schuldgefühle sich zurück ziehen und sagen: Nö, ich bin jetzt müde. Wir können einfach kuscheln, dafür brauche ich keine Kraft, das kann man sogar im Liegen machen.
Dafür muss mir aber bewusst sein, dass ich ich müde bin. Also mehr Achtsamkeit, bewusster sein, in sich hinein hören. Ich kenne ja auch genug Techniken um schnell wieder Kraft zu tanken. Sei es eine Atemübung oder auch nur die Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenken.
Es bleibt noch das „Danach“. Wenn ich es also nicht geschafft habe und doch zum alten Muster gegriffen habe. Keine Schuldgefühle. Ich habe es getan, weil es nicht anders ging. Noch nicht. Ich bin dabei dieses Problem zu lösen. Und ich habe mich ja immerhin beruhigt. Ich habe meine Geschmacksknospen verwöhnt. Ich habe mir was Gutes getan, was Leckeres gegessen. Ja, es gibt noch genug andere Sachen, mit denen man sich Gutes tun könnte. Aber noch, bin ich nicht in der Lage, sie anzuwenden. Ich habe aber mein ganzes Leben noch vor mir.
Moment mal, was ist denn das? Ich habe ja neben den Schuldgefühlen auch noch das Gefühl versagt zu haben. Wieder habe ich es nicht geschafft. Was geschafft? Mich zu kontrollieren. Aber vielleicht ist es auch gut so? Vielleicht sollte ich langsam lernen diese Kontrolle los zu lassen? Einfach ich sein. Es mir erlauben. Leben und nicht ständig eingrenzen. Oh, das ist ja ein schönes Gefühl. Leben. Frei und unbeschwert.
Nur, wer hat sich diese Zäune denn gebaut? Ich selbst. Ich selbst habe mich ins Gefängnis meines Diätdenkens begeben. Ich darf dieses nicht und jenes auch nicht. Hier eine Sperre und da ein Gitter. Ja, nicht frei sein. Aber bin ich denn soweit, dass ich aus der Haft entlassen werden kann? Wie so viele Häftlinge, die eine lange Sitzdauer hinter sich haben, so habe ich auch eine gewisse Angst vor der Freiheit.
Hier in der Diät, da ist alles bekannt, da weiß ich, was ich darf und was nicht. Das ist eine gewohnte Situation. Da draußen in der freien Wildbahn, da muss ich mich umstellen. Da ist alles anders. Und neu. Ja, ich habe tatsächlich ein wenig Angst dieses Neuland zu betreten.
Ich kämpfte so mit der Angst dahin, als eine neue Email in mein Postfach flatterte. Ach, nur ein Newsletter, winkte ich schon fast ab. Da las ich die Überschrift und mir stockte der Atem „Neuland betreten“. Nein, gibt es denn so was? Ich öffnete und war völlig aus den Socken. Ein Gedicht von Andrea Abele.
Neuland betreten heißt,
ausgetretene Pfade verlassen,
Liebgewordenes loslassen,
Grenzen überschreiten,
Sicherheiten aufgeben,
Hoffnung auf etwas setzen,
was noch nicht sichtbar ist.


Neuland betreten heißt,
unbekannte Wege entdecken,
Neues lieb gewinnen,
Horizonte weit abstecken,
Selbstvertrauen stärken,
erleben wie Reide und
Wachstum geschieht.


Mich berührte es sehr und ich fühlte noch mehr Entschlossenheit die Krankheit zu besiegen. Jedoch sah ich in der Essstörung kein Problem in dem Sinne mehr. Nein, es ist eine Ressource. Wenn ich diese Krankheit nicht hätte, dann würde ich diese Seiten an mir nicht bearbeiten. Ich würde weiterhin die Bedürfnisse der anderen vor meine eigenen stellen.
Ich würde nicht auf die Idee kommen, mir mehr Ausgleich zu verschaffen. Ich wäre weiterhin sehr streng zu mir und würde meine irrationalen Vorstellungen von mir selbst behalten. Ich würde es nicht so schlimm finden, dass ich nicht weiß, was ich fühle; dass ich mich von meinen Gefühlen fern halte; dass da eine Barriere zwischen mir und meinem Körper ist. Und hektisch zu sein, wäre für mich auch nicht so furchtbar. Wie eine emsige Biene, immer fleißig, immer tut sie was.
Nein, nun fühlte ich die Kraft und den Mut es zu verändern. Es hatte alles einen Sinn bekommen. Ich werde diese Eigenschaften in mir so umwandeln, dass sie mir gut tun. Das ist notwendig, damit ich die Störung beheben kann.

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