Freitag, 19. Juni 2015

Garten als Therapie

Entlasse dich aus dem Selbstoptimierungszwang - Veit Lindau


In diesem Sinne geht es mir die letzten 20 Tage auch. Ich zwänge mir keine Perfektion mehr auf. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin jetzt schon vollkommen. Wir sind am 30. umgezogen und eigentlich hat das mit dem "unperfekt" sein schon davor angefangen. Wie soll es sonst sein, wenn überall Kisten stehen, wenn man den halben Hausrat irgendwie nicht findet, wenn Möbel sich täglich verschieben und, und, und?

Und hier im neuen Zuhause, da ging es los mit Einrichten und Auspacken. Geschirr abspülen im Bad, weil in der Küche noch kein Wasseranschluss ist, Kochen auf einem Mini-Herd, weil der Backofen auch noch nicht angeschlossen ist, Kleidung ist in Koffern oder nur notdürftig aufgehängt. Und doch war ich vom ersten Tag glücklich hier.

Am Morgen nach dem Aufstehen setzte ich mich auf die Terrasse raus und grinste so unverschämt wie ich nur kann. Es war dieses Gefühl von absoluter Freiheit. Keine Wände, keine Fenster, du siehst einfach auf die Bäume und den Rasen, du hörst die Vögel zwitschern, du siehst die ersten Sonnenstrahlen ganz sanft den Boden berühren. Und dabei ist es so was von egal, ob das Gras kniehoch ist oder ob das Unkraut auf dem Beet wuchert. In mir herrschte eine tiefe Ruhe und dementsprechend veränderte sich auch mein Essverhalten.

Süßkram? Brauch ich nicht. Zu viel essen? Geht gar nicht, weil ich so abgelenkt vom Gartengeschehen bin, dass ich langsamer als sonst esse. Stress essen? Ich habe keinen Stress mehr. Und wenn, dann nur positiven. Mein Körper freute sich über all die physischen Anstrengungen wie Umgraben oder Rankhilfe abbauen oder Steinplatten versetzen. Und danach sich ins Gras legen und den Himmel durch die Krone der großen Buche ansehen. Hm, Stresshormone wie weg geblasen.

Zwei Ereignisse hatte ich, von denen ich berichten möchte.

Sahnetorte zum Mittagessen
Ich habe es getan. Ich habe es wirklich getan. Ich habe mich gefragt, was ich möchte und als erste Antwort kam Schlagsahne. Schön steif geschlagen, luftig locker und mit Erdbeersoße. Nee, das geht nicht. Zuerst was Gesundes. Das war der erste Impuls und den unterdrückte ich aber und forschte weiter nach. Soll es Erdbeersahne pur sein oder mit was dazu? Da ist noch ein Stück vom Apfelkuchen in der Küche, wie wäre es zusammen mit dem? Au ja! Ungefähr 200 ml Schlagsahne aufgeschlagen, Erdbeerpüree vorsichtig untergehoben und das Ganze auf den Apfelkuchen drauf, eine schöne dicke Schicht. Und das Stück Kuchen war ja auch nicht klein. Zufrieden mit mir selbst setzte ich mich auf die besonnte Terrasse und ließ es mir schmecken.

Und was war? Die Hälfte habe ich mit Genuss und Augenverdrehen und ständigem "Hmm" verspeist, dann kam das Signal, bitte nicht mehr. So eine leichte Übelkeit, würde ich sagen. Nichts schlimmes. Aber wenn ich weiter gegessen hätte, müsste ich mich sicher übergeben. Ich sah den Kuchen an, schob ihn zur Seite und blieb noch etwas sitzen. Nein, ich mag wirklich nicht mehr. Der Rest kam in den Kühlschrank und nach einer kurzen Entspannungsmeditation machte ich mich an die Arbeit, die auf mich im Haus und Garten wartete.

Was habe ich gelernt?
1. Ich kann mir was erlauben, auch wenn es nicht gesund und rational ist.
2. Ich kann aufhören zu essen, wenn ich satt bin.
3. Ich kann naschen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.
4. Es ist okay auch mal Sahnetorte zum Mittagessen zu haben.
5. Ich habe seitdem kein einziges Mal Lust auf Sahnetorte (oder überhaupt Sahne).


Mein Leben ist nicht süß genug
So empfinde ich es doch tatsächlich manchmal trotz Garten und obwohl es mir echt gut geht. Ich bin freiberuflich unterwegs, habe keinen Stress im Büro, nur selten im Gericht oder beim Notar, die Kinder sind auf einer Montessori-Schule, Hausaufgaben-Stress haben wir also auch nicht, ebenso wie Notendruck oder Unwille zur Schule gehen zu wollen. Ich bin rundum versorgt, gesund, habe alle Körperteile dran, kann also gehen, sehen, schmecken, riechen und noch so vieles mehr, was ein gesunder Mensch so kann. Ach ja, Geldsorgen habe ich auch keine.

Und doch als ich nach dem Abendessen mir ein Stück Schokolade aus der Süßigkeitenbox meiner Kinder stibitzte, da war dieser Gedanke: "Du versuchst dir gerade nur das Leben zu versüßen." Ich bin nicht im Stress gewesen, war nicht müde oder wütend oder sonst was. Der Tag war schön und doch "nicht süß genug". Neugierig wie ich bin, forschte ich weiter. Wo kam ein Störfaktor dazu. Aha, ich sehe es! Beim Zubereiten vom Abendessen stand ich in der Küche und kam mir furchtbar allein gelassen vor. Warum ich? Ich alleine soll das Essen für die ganze Bande machen.

Habe ich dabei um Hilfe gebeten? Nein. Hätte ich welche bekommen? Ja. War es eilig? Hätte das Essen auch etwas warten können? Ja. Hatte ich Lust auf Kochen? Nein.

So einfach. Sich einen Moment nehmen und sich fragen, ob ich gerade wirklich kochen will und wenn nicht, sich was Gutes tun und danach los legen. Hätte ich danach noch Lust auf Schoki? Nö, sicherlich nicht.

Alles Geniale ist denkbar einfach.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen